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Cancel Culture

Klima der Absicherung - Gestrichener "Nussknacker" des Staatsballetts

Das Staatsballett hat Tschaikowskys "Nussknacker", der traditionell in der Vorweihnachtszeit aufgeführt wird, aus dem Programm gestrichen. Der Ballettklassiker aus dem 19. Jahrhundert ist demnach in unseren postkolonialen Zeiten so nicht mehr aufführbar.

Geschrieben von Volker Blech am . Veröffentlicht in Kunst & Kultur.
Was ist politisch korrekt und erforderlich, und wo beginnt die Wokeness, die Wachsamkeit mit ihren teilweise restriktiven Zügen?
Was ist politisch korrekt und erforderlich, und wo beginnt die Wokeness, die Wachsamkeit mit ihren teilweise restriktiven Zügen?
Foto: Maurice / CC BY-NC-SA 2.0 (via Flickr)

Das Staatsballett hat Tschaikowskys "Nussknacker", der traditionell in der Vorweihnachtszeit aufgeführt wird, aus dem Programm gestrichen. Der Ballettklassiker aus dem 19. Jahrhundert ist demnach in unseren postkolonialen Zeiten so nicht mehr aufführbar.

Das Ballettpublikum hat zunächst einmal nur die prächtigen Bühnenbilder und bezaubernden Spitzentänzer vor Augen. Der Verlust durch die Absage lässt sich nicht leugnen. Aber es gibt auch andere Positionen. Die Diskussion dahinter gehört zu jenen, die die Gesellschaft seit einiger Zeit spalten. Was ist politisch korrekt und erforderlich, und wo beginnt die Wokeness, die Wachsamkeit mit ihren teilweise restriktiven Zügen? In der Debatte ist erschreckend viel Angst unterwegs. Ein Klima der Absicherung und Übervorsichtigkeit ist längst im Kulturbetrieb zu bemerken.

Es geht letztlich auch um die Streich- oder Abbruchkultur (Cancel Culture), wodurch Kunstwerke buchstäblich aufhören zu existieren, weil sie nicht mehr aufgeführt werden. Das Staatsballett will zunächst einmal Diskussionen auch mit Wissenschaftlern über den "Nussknacker" führen. In der Kultur und in den Museen stößt man immer wieder auf die Problemstellung. Die Komische Oper wirbt für einen ""Zigeuner"baron" mit doppelten Anführungsstrichen und mischt sich in die kontroverse Debatte ein. Das Meinungsspektrum reiche demnach von einer strikten Tilgung des als diffamierend empfundenen Begriffs "Zigeuner" bis hin zu emotionalen Verteidigungen à la "Mein Zigeunerschnitzel wollen sie mir auch noch nehmen!?". Das Thema wird sogar künstlerisch humorvoll auf der Bühne ausgetragen. Verdis "Othello" ist wegen seines schwarzen Titelhelden umstritten. Längst hat es sich an den Opernhäusern durchgesetzt, dass Blackfacing falsch ist. Dass der Othello nicht mehr schwarz geschminkt werden kann, hat Einfluss auf Neu-Inszenierungen. Das Problem ist jetzt der Fantasie von Regisseuren überlassen. Das Staatsballett sieht etwa beim "Nussknacker" im Stereotyp der kleinen Trippelschritte beim Chinesischen Tanz ein Problem. Im Ballett ist es nur eine liebevolle Karikatur. Dafür setzt man es nicht ab.

Auch in Künstlerkreisen findet sich die Zerrissenheit der Debatte wieder. Es gibt Darstellerinnen, die Rollen ablehnen, weil sie zu sexistisch sind. Ein Schauspieler will sich mit einer gewalttätigen Figur nicht anfreunden. Andere sorgen sich um die Kunstfreiheit, weil auf den Bühnen gerade auch das vorgeführt werden soll, was die Gesellschaft besser nicht tun solle. Die Darstellung von Außenseitern und die Kontroverse darüber gehören zur Kunst. Das wird zunehmend infrage gestellt.

Dabei ist die Freiheit im Grundgesetz Artikel 5, Absatz 3, klar formuliert: "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei." Nach den Erfahrungen der Nazizeit sollte sich der Staat aus diesen Dingen heraushalten, selbst wenn die Kunst pornografisch, provokativ oder politisch unkorrekt daherkommt. Das ist weitgehend eingehalten worden, auch wenn die eine oder andere Partei über Jahrzehnte hinweg mal Subventionen streichen wollte, weil ihr etwas am Programm eines Theaters nicht passte.

Die gegenwärtige Debatte offenbart aber eine andere Qualität der ideologischen Bevormundung. Ein Künstler wie Schlingensief wäre mit seinen politisch unkorrekten Provokationen in fürchterlichen Shitstorms untergegangen - und arbeitslos geworden. Die Debatte speist sich heute zu nicht unwesentlichen Teilen aus sozialen Medien. Eine diffuse virtuelle Welt gewinnt zunehmend an Deutungshoheit in der realen Welt. Es ist auch ein Generationskonflikt, den es auszuhalten gilt. Aber wer will in einer Mainstream-Welt leben, in der Standpunkte nicht mehr ausgetragen werden?

Quelle: Berliner Morgenpost