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Personalisierung und Protest

Das Ergebnis der Landtagswahlen wird häufig als Zeitenwende bezeichnet, was eine zumindest unscharfe Deutung ist. Dieses Resultat ist vielmehr der Ausdruck einer tiefgreifenden Veränderung im politischen System und seiner Wahrnehmung, die schon lange vor der Gründung der rechtspopulistischen AfD eingesetzt hat.

Geschrieben von Jan Jessen am . Veröffentlicht in Meinung.
Beatrix von Storch
Beatrix von Storch
Foto: Metropolico.org / Flickr (CC BY-SA 2.0)

Das Ergebnis der Landtagswahlen wird häufig als Zeitenwende bezeichnet, was eine zumindest unscharfe Deutung ist. Dieses Resultat ist vielmehr der Ausdruck einer tiefgreifenden Veränderung im politischen System und seiner Wahrnehmung, die schon lange vor der Gründung der rechtspopulistischen AfD eingesetzt hat.

Diese Veränderung manifestiert sich in zwei Schlagworten:

Personalisierung und Protest.

Die Welt wird zunehmend komplexer. Migrationsströme nehmen zu. Die Globalisierung, die Deutschland in den vergangenen Jahren zu wachsendem Wohlstand verholfen hat, bringt es mit sich, dass politische Entscheidungen immer häufiger in einem internationalen Zusammenhang getroffen werden müssen. Einfache Antworten gibt es nicht mehr, Ideologien haben ausgedient.

In Deutschland wie in anderen Industriestaaten verblassen die Unterschiede zwischen den etablierten Parteien, die politischen Debatten drehen sich zäh um technische Details angeblich alternativloser Grundsatzentscheidungen. Das vermittelt vielen Menschen den Eindruck eines erstarrten, in Zwängen gefangenen politischen Systems, in dem die Wünsche und Ängste der Bürger keine Beachtung mehr finden. Die Folge: Politische Inhalte rücken bei Wahlentscheidungen in den Hintergrund. Gewählt werden Personen, denen man vertraut (siehe Kretschmann, siehe Dreyer, auch die Umfragewerte der Kanzlerin steigen trotz ihrer Flüchtlingspolitik). Oder man wählt den Protest. 75 Prozent derjenigen, die bei den Rechtspopulisten ihr Kreuz machten, gaben an, sie hätten die AfD nicht etwa wegen ihrer Inhalte gewählt, sondern weil sie der etablierten Politik einen Denkzettel verpassen wollten.

Es ist kein Zufall, dass unter den Wählern der Rechtspopulisten viele Fans des russischen Autokraten Putin sind. Die Demokratie hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Für die etablierten Parteien bleibt wenig anderes übrig, als genauer zu erklären und zu moderieren, was sie da eigentlich im politischen Prozess tun. Anstatt Ängste zu ventilieren, sollten sie Lösungsmöglichkeiten anbieten. Natürlich wäre es auch klug, wenn die SPD ihr linkes Profil schärfen würde und die Union ihr konservatives, um wieder unterscheidbarer zu werden - all das verhindert aber perspektivisch keine Protestwahlen. Um die Ausschläge nach links und rechts zukünftig zu verhindern, bräuchte es eine Vereinfachung der Welt. Das Rad der Geschichte lässt sich aber nicht mehr zurückdrehen. Das werden auch die Reaktionäre der AfD erfahren, wenn sie im politischen Alltag angekommen sind.



Quelle: ots/Neue Ruhr Zeitung / Neue Rhein Zeitung