Im Worst Case
Nach dem Schock durch den Angriff Russlands auf die Ukraine haben sich die Aktienmärkte zum Wochenschluss erholt. Gestützt wurden sie von der Meldung, dass Russland zu Verhandlungen mit der ukrainischen Regierung bereit sei, was auf ein Ende der Kämpfe hoffen ließ.
Nach dem Schock durch den Angriff Russlands auf die Ukraine haben sich die Aktienmärkte zum Wochenschluss erholt. Gestützt wurden sie von der Meldung, dass Russland zu Verhandlungen mit der ukrainischen Regierung bereit sei, was auf ein Ende der Kämpfe hoffen ließ.
Ein schwacher Trost, denn Gespräche mit Kiew hätte Moskau auch ohne eine militärische Aggression führen können - und so auch das entstandene menschliche Leid verhindern. Aus Sicht der Marktteilnehmer ist bis auf weiteres Vorsicht angesagt. Denn die Lage bleibt überaus unsicher, und es ist mit anhaltend starken Kursschwankungen zu rechnen. Auf jeden Fall ist mit der Invasion nun der Worst Case eingetreten, dessen Wahrscheinlichkeit zuvor niedriger veranschlagt wurde als die einer diplomatischen Lösung des Konflikts.
Für die Aktienmärkte bedeutet das nach dem Zins- und Inflationsschock den nächsten schweren Schlag und damit Abstriche an den für dieses Jahr erwartbaren Anlageerträgen. Wenig verwunderlich haben Analysten nun begonnen, ihre Indexziele gerade für die europäischen Aktienmärkte zu kappen. Dazu zählt die Bank of America, die schon zuvor, unter Hinweis auf steigende Realzinsen und nachlassende konjunkturelle Dynamik, einen Rückgang des derzeit bei 454 Zählern liegenden Stoxx Europe 600 auf 430 Zähler prognostiziert hatte. Trotz des Rückgangs des Index im Vergleich zu seinem Januar-Hoch um 11 Prozent ist es nach Auffassung der Strategen noch zu früh, für europäische Aktien zuversichtlich zu werden. Vielmehr sehen sie nun zusätzliche Risiken, darunter einen Energiepreisschock, der das Wachstum des Euroraums um einen halben Prozentpunkt reduzieren könnte, und haben daher ihr Indexziel auf 410 Punkte gesenkt.
Andere Häuser beurteilen die fundamentalen Rahmenbedingungen zuversichtlicher und rechnen weiterhin mit einem ansprechenden Wachstum der Wirtschaft und der Unternehmensgewinne als Basis für einen guten Aktienjahrgang. So ist das Global Wealth Management der UBS der Auffassung, dass dies keine Zeit ist, für Aktien ausgesprochen skeptisch zu werden. Die Anlegerstimmung sei bereits negativ, zumindest ein Teil der Risiken sei bereits eingepreist, und eine Kombination aus einem globalen Wachstum über Trend und sinkender Inflation könnte das Bild aus Sicht der Investoren schnell günstiger aussehen lassen. Das Institut rät zu Portfolio-Absicherungsstrategien, weil nicht auszuschließen sei, dass höhere Inflationserwartungen die Fed zu einer ausgesprochen restriktiven Linie zwingen und es durch die Entwicklung in der Ukraine zu Verwerfungen an den globalen Energiemärkten kommt. Es glaubt jedoch zum einen, dass es Faktoren gibt, die auf den russischen Präsidenten Putin hemmend wirken werden, nämlich seine eigene Einschätzung der Kosten einer umfassenderen militärischen Kampagne in Bezug auf Ressourcen, ukrainischen Widerstand und politischen Rückhalt in Russland. Zum anderen glaubt UBS Global Wealth Management, dass sowohl Europa als auch Putin an fortgesetzten Gaslieferungen interessiert sind. 2019 seien 20 Prozent des BIP und 40 Prozent der Staatseinnahmen Russlands auf den Energiesektor entfallen. Das Institut glaubt daher, dass Putin weiterhin die Ukraine mit unterschiedlichsten Maßnahmen destabilisieren wird, aber nicht so weit gehen wird, dass Energiesanktionen des Westens ausgelöst werden.
Auch die DZ Bank beurteilt die Aussichten zuversichtlich, wenngleich sie ihre Jahresendprognose für den Dax nun von 18000 auf 17000 Zähler reduziert hat. Die globale Zinswende und das aktuelle Kriegsgeschehen belasteten den Aktienmarkt stärker und nachhaltiger als ursprünglich erwartet. Die Marktvolatilität werde auf eine neue Höhe getrieben und auch hoch bleiben. Die aktuelle Gemengelage überschatte jedoch die Tatsache, dass die überregionalen Unternehmensgewinne kontinuierlich wüchsen und die Erwartungen für die Folgejahre zunähmen. Dies werde aufgrund erhöhter Risikoprämien in den Aktienkursen nicht adäquat reflektiert und bilde vor allem für Zykliker eine "stille Bewertungsreserve" - Aktienkurspotenzial, das durch eine Verbesserung des Investorensentiments entladen werden könne. "Unter der Annahme einer zeitlichen Begrenzung sowohl für die Russland-Ukraine-Krise als auch für die globalen Corona-Beschränkungen sehen wir noch im ersten Halbjahr 2022 von den aktuellen Index-Levels aus ein überregional positives Kurspotenzial. Krisenbedingte Risikoprämien sollten sukzessive ausgepreist werden."