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Xi Jinping ist in Verlegenheit

Volker Stanzel, ehemaliger deutscher Botschafter in Peking, zur Unterdrückung der Uiguren und der Wahl in Hongkong.

Geschrieben von Redaktion am . Veröffentlicht in Welt.
Foto: Studio Incendo / CC BY 2.0 (via Flickr)

Volker Stanzel, ehemaliger deutscher Botschafter in Peking, zur Unterdrückung der Uiguren und der Wahl in Hongkong.

Bei einer Rekordwahlbeteiligung haben bei den Kommunalwahlen 60 Prozent der Hongkonger für die Demokratiebewegung gestimmt. Ein unzweideutiges Signal an Peking?
Dr. Volker Stanzel: Auf jeden Fall. Zwar haben die Demokraten aufgrund geschickter Kandidatenaufstellung in den Wahlkreisen sowie durch das Mehrheitswahlrecht mehr Sitze errungen als sie Stimmen erhalten haben. Dennoch sind Zweidrittel der Stimmen für die Demokratiebewegung ein Signal der Selbstbehauptung. Es war aber bei den Wahlen das interessante Phänomen einer Spaltung zu beobachten, die mir bei meinem jüngsten Besuch in Hongkong ebenfalls auffiel. Die ältere Generation hat sich schon lange damit abgefunden, dass Hongkong Teil der Volksrepublik wird, haben zudem für ihre eigene Lebensgestaltung nichts wesentliches mehr zu befürchten. Die jüngeren Hongkonger empfinden dagegen die heranrückende Einverleibung im Jahr 2047 als Bedrohung. Sie kennen die Bedingungen auf dem Festland und sie wollen nicht in Unfreiheit leben. Dazu sehen sie, wie Peking Zusagen bricht, etwa die freier Wahlen, die im Grundgesetz von 1997 verankert wurde. Das sei ein wertloses Stück Papier, hatte das Außenministerium dieses abqualifiziert. Zudem haben die Hongkonger haben Übergriffe erlebt wie die Entführung missliebiger Buchhändler, die dann angeprangert wurden. Zwar ist Hongkong keine Demokratie, aber seine Bürger sind an eine freiheitliche Kultur und eine unabhängige Justiz gewöhnt. Das wollen sie nicht missen.

Das Aufbegehren der Jungen hat Peking überrascht. Hat es wegen seiner totalen Kontrolle auf dem Festland das Gespür dafür verloren, wie Chinesen anderswo "ticken"?
Oder die KP-Führung hat dieses Gespür nie besessen. Immerhin besteht ihre Diktatur schon 70 Jahre. Auf dem Festland habe ich oft völliges Unverständnis für die Protestierer in Hongkong vernommen. Der Tenor lautete: "Die sollen sich nicht so anstellen." China werde immer mächtiger und immer reicher, seinen Bürgern gehe es immer besser. Der Deal der KP unter Deng Xiaoping mit dem Volk lautete: Jeder könne nach Belieben reich werden. Dafür müsste das Volk die Politik der Kommunistischen Partei überlassen. Dass dies für die Hongkonger nicht attraktiv ist, wird auf dem Festland nicht akzeptiert. Es gibt kein Gefühl dafür, wie sehr die Herausbildung einer digitalen Diktatur und die brutale Umerziehung eines ganzen Volkes, der Uiguren, in Hongkong Alarm auslöst.

Wissen Normalbürger auf dem Festland um das Schicksal der Uiguren in Xinjiang?
Nein. Nicht mal Hongkong ist bei Normalbürgern ein relevantes Thema. Bei Vorträgen, die ich vor Studenten hielt, zeigte sich, dass sie nur vage um Unruhen und Gewalt wissen. Sie denken, die Lage wäre mit der im Nahen Osten vergleichbar. Das Thema Uiguren verknüpfen die meisten Chinesen mit dem Stichwort Terrorismus - um den sich die Führung kümmere. Hier zeigt sich, wie erfolgreich die staatliche Propaganda ist.

Die Formel "Ein Land, zwei Systeme" war von Anfang an verlogen. Sowohl Peking als auch London hatten erwartet, dass die Zeit für sie arbeitet. Läuft es auf eine brutale Einverleibung der ehemaligen Kronkolonie hinaus?
Die Formel war nicht verlogen, sondern - mit meinem Beruf im Hintergrund darf ich das sagen - geschickte Diplomatie. London hatte keine Chance, nach Ablauf des 99-jährigen Pachtvertrags die winzige Insel militärisch zu behaupten. Und Deng Xiaping wollte seine Strategie, "im Verborgenen stärker zu werden", nicht durch eine gewaltsame Eroberung Hongkongs gefährden. Und so fanden sie eine Formel, die alle hoffen ließ: Peking, dass sie Hongkong geräuschlos eingemeinden könnten. London, dass China sich demokratisiert. Hongkong, dass sich nichts ändern wird. Womit wir rechnen müssen, ist, dass die KP zwar den Einsatz von Soldaten vermeiden will. Straßenkampf in einer Stadt mit 7,5 Millionen Einwohnern ist unwägbar. Aber bis 2047 sind noch 28 Jahre - Zeit genug, die Freiheit langsam, aber resoluter als bisher abzuwürgen.

Festlands-Chinesen strömen in Massen nach Hongkong, verschärfen die extreme Wohnungsnot. Inwieweit ist das Aufbegehren ein sozialer Protest?
Äußerst gering. Es ist die Mittelklasse, die den Protest trägt, nicht etwa die Schichten, die in echter existentieller Not sind. Das ist eine sehr stark politisch motivierte Bewegung. Natürlich kämpfen die jungen Hongkonger auch mit der Wohnungsnot. Aber das ist nicht der Grund, weswegen sie auf ihren Demonstrationen die chinesische Flagge mit einem Hakenkreuz versehen.

Schon jetzt dürfte das Aufbegehren der Hongkonger in der Regenschirmbewegung 2014 und 2016 sowie die aktuelle Revolte in Peking als Schmach empfunden werden. Kann sich Xi Jinping, der sich dafür feiern lässt, China wieder stark gemacht zu haben, das gefallen lassen?
Eigentlich nicht. Und das ist auch das stärkste Argument dafür, dass Xi Jinping irgendwann die Geduld verlieren und zur Gewalt greifen wird. Um seinen Ruf, ein starker Mann zu sein, mit entsprechenden Taten zu unterfüttern. Aber durch das Wahlergebnis sind die Risiken eines gewaltsamen Eingreifens noch vergrößert worden, so dass Xi Jinping in Verlegenheit ist. Sollte es tatsächlich in Peking einen Machtkampf geben, wie immer wieder kolportiert wird, dürfte sich dieser noch verschärfen. Schon allein die Tatsache, dass die "China Cables", die Geheimdokumente zu Menschenrechtsverstößen in Xinjiang aus dem Inneren der KP an westliche Medien gespielt wurden, zeugt davon, dass der "große Steuermann" intern nicht unumstritten ist.

Bilder von Protestieren, die mit dem Bogen auf Polizisten schießen, gingen um die Welt. Haben sie der KP in Peking Argumente an die Hand gegeben für ein hartes Durchgreifen?
Selbstverständlich. Das war Wasser auf die Mühlen der Medien auf dem Festland, die ein Durchgreifen gegen die "Kakerlaken" genannten Demonstranten fordern. Mit denen müsse die Hongkonger Regierung - der perfekte Sündenbock für Peking - endlich aufräumen. Dementgegen sehen die Hongkonger, dass auch die Polizei Gewalt ausübt. Und die Weltöffentlichkeit kann dementgegen einordnen, dass das Aufbegehren über Monate relativ friedlich war. Um wie viel blutiger sind etwa die Straßen in Teheran, wo es in wenigen Tagen 1000 Tote gab.

Gibt Pekings Vorgehen in Hongkong einen Wink auf die Pläne mit Taiwan?
In der Tat und das in doppelter Hinsicht. So ist zum einen eine gewaltsame Rückeroberung wahrscheinlich auszuschließen, obgleich Xi Jinping in seiner Neujahrsrede mit dem Säbel gerasselt hat. Aber angesichts des vorsichtigen Agierens der KP in Hongkong wäre eine riskante Invasion Taiwans ein krasser Kurswechsel. Deshalb dürfte man auch in diesem Fall auf strategische Geduld und ein langsames Abwürgen der Lebensbedingungen für ein freies Taiwan setzen.

Welche Stellschrauben haben Berlin und Brüssel, um extreme Erschütterungen in Ostasien zu vermeiden? Bleibt nur der Appell für friedliche Lösungen?
Europa und China sind füreinander die wichtigsten Wirtschaftspartner. Das ist ein bedeutendes Instrument - nicht zur Erpressung, sondern zum Führen ernster Gespräche. Wer die chinesische Führung ernst nimmt, aber zugleich auch den eigenen Standpunkt klar macht - wie Kanzlerin Merkel -, kann in Peking mehr bewegen als der, der mit Sanktionen droht wie jetzt der US-Senat. Wenn Europa den Kampf der Hongkonger um ihre Freiheit ebenso ernst nimmt wie die Notwendigkeit von Stabilität in Ostasien, muss es darauf hinwirken, dass Peking mit der Protestbewegung in einen Dialog eintritt.

Kann es passieren, dass Peking der nationalistischen Geister, die es in der Bevölkerung beschwor, nicht mehr Herr wird und so zu militärischen Abenteuern getrieben wird?
Grundsätzlich besteht diese Gefahr. Aber andererseits werden die Informationen über Hongkong von der Führung auf dem Festland so rar gehalten, dass sie alle Möglichkeiten hat, über diverse Kanäle eine Beruhigung der Lage zu erreichen, so dass sie in diesem Sinne nicht Gefahr läuft, zu einer Getriebenen zu werden.

Zur Person
Volker Stanzel (71) ist Diplomat im Ruhestand und ehemaliger Politischer Direktor des Auswärtigen Amtes sowie ehemaliger Botschafter in Peking (2004 bis 2007) und in Tokio, der nun bei der Denkfabrik Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin für die Forschungsgruppe Asien arbeitet. Seit 2018 ist der Japanologe und Sinologe Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.


Quelle: ots/Landeszeitung Lüneburg