Ukraine: Alles auf eine Karte
Wolodymyr Selenskyj ist im Frühjahr aus dem TV-Studio an die ukrainische Staatsspitze gestürmt. Um seine Macht auszubauen, ordnete der Ex-Komiker im Präsidentenamt sofort eine Neuwahl des Parlaments an. Und siehe da, das Spiel wiederholte sich. Seine aus dem Nichts geschaffene Partei "Diener des Volkes" setzte sich innerhalb kürzester Zeit uneinholbar an die Spitze aller Umfragen. Am Sonntag nun eroberte das Selenskyj-Lager eine absolute Mehrheit und kann künftig allein regieren.
Wolodymyr Selenskyj ist im Frühjahr aus dem TV-Studio an die ukrainische Staatsspitze gestürmt. Um seine Macht auszubauen, ordnete der Ex-Komiker im Präsidentenamt sofort eine Neuwahl des Parlaments an. Und siehe da, das Spiel wiederholte sich. Seine aus dem Nichts geschaffene Partei "Diener des Volkes" setzte sich innerhalb kürzester Zeit uneinholbar an die Spitze aller Umfragen. Am Sonntag nun eroberte das Selenskyj-Lager eine absolute Mehrheit und kann künftig allein regieren.
Das gab es noch nie in der postsowjetischen Ukraine. Die krisenerprobten Ukrainer haben also nach langen Jahren des Ringens zwischen prorussischen und prowestlichen Kräften alles auf eine Karte gesetzt, und sie gehen damit ein hohes Risiko ein. Denn Selenskyj ist nicht nur politisch völlig unerfahren. Er hat seinen Landsleuten bislang auch kein echtes Programm vorgelegt, sondern nur Allgemeinplätze verbreitet: Die allgegenwärtige Korruption wolle er bekämpfen, das Oligarchensystem aufbrechen und vor allem den Krieg gegen prorussische Separatisten im Donbass schnellstmöglich beenden. Über das Wie der "Operation Neustart" hat er sich dagegen ausgeschwiegen.
Das Schweigen hatte zweifellos Methode, denn auf diese Weise wurden Selenskyj und seine Volksdiener zu einer Projektionsfläche für all die Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte der Menschen im Land. Nun aber, so forderten es gestern fast alle Kommentatoren in Kiew, müsse der Präsident liefern. Das allerdings ist schlicht unmöglich, wenn man sich die Herausforderungen einmal genauer ansieht.
Im Donbass zum Beispiel wird Selenskyj den Krieg, der in den vergangenen fünf Jahren mehr als 13.000 Todesopfer gefordert hat, nur dann beenden können, wenn der russische Präsident Wladimir Putin mitspielt. Der Kremlchef hat aber offenkundig nicht das geringste Interesse daran, die Lage in der Ostukraine zu deeskalieren und das Nachbarland zu stabilisieren. Im Gegenteil: Putins geopolitisches Credo für die Staaten des postsowjetischen Raums lautet "Destabilisierung potenzieller Nato-Kandidaten", insbesondere der Ukraine und Georgiens. Ähnlich kann man die Problematik auch in der Innenpolitik durchdeklinieren. Um die berüchtigten Oligarchen zu entmachten, die in Wirtschaft, Politik und Medien, im Sicherheitsapparat und sogar in Sport und Kultur bislang an nahezu allen Schalthebeln sitzen, dürfte es künftig keine falsche Rücksichtnahme mehr geben. Allerdings pflegt Selenskyj selbst mit dem einen oder anderen Oligarchen enge Freundschaft.
Beide Projekte - Frieden und Oligarchenentmachtung - gleichen also der Quadratur des Kreises. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Das Experiment Selenskyj kann trotz allem gelingen. Über das wahre Wesen dieses erst 41 Jahre alten und sichtbar energiegeladenen Politneulings lässt sich bislang zu wenig Belastbares sagen, um ihn und seine Absichten verlässlich beurteilen zu können. Es ist durchaus denkbar, dass er ehrlich nur das Gute für seine Landsleute will und ihm das Bild einer proeuropäischen, prosperierenden Ukraine vorschwebt, die mit dem großen Nachbarn Russland friedlich koexistiert.
Allerdings trägt der sanfte Populismus, den Selenskyj zur Schau stellt, systemische Risiken in sich. Wer allein die ganze politische Macht in Händen hält, hat eben auch die Macht, diese zu missbrauchen. Es wäre in der Ukraine leider nicht das erste Mal, dass ein Präsident sich im Amt vom Hoffnungsträger in einen Herrschsüchtigen verwandelt. Und Selenskyj hat bereits angekündigt, die Immunität politischer Gegner im Parlament bei Bedarf mit der Mehrheit seiner Volksdiener aufheben zu lassen. Das zeugt von wenig demokratischem Verständnis.