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Ein neues Europa

Beim Treffen der Regierungschefs in Brüssel zeichnen sich die Konturen einer künftigen Kern-EU ab.

Geschrieben von Daniela Weingärtner am . Veröffentlicht in Welt.
Foto: Chickenonline / pixabay (CC)

Beim Treffen der Regierungschefs in Brüssel zeichnen sich die Konturen einer künftigen Kern-EU ab.

Der wichtigste Teil des EU-Gipfels fiel gestern aus. Immerhin elf der 28 EU-Staaten hatten sich mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmed Davutoglu vor dem eigentlichen Ratstreffen darüber beraten wollen, welche Gegenleistungen Ankara dafür erwarten kann, dass es weniger Flüchtlinge aus der Türkei Richtung Griechenland und Bulgarien weiterreisen lässt. Vor allem die deutsche Bundeskanzlerin setzt große Hoffnungen in diese Zusammenarbeit, seit klar ist, dass die europäischen Nachbarn teils nicht in der Lage, teils nicht willens sind, die angemessenen Antworten auf das Problem zu finden. Da auf dem eigentlichen EU-Gipfel über eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge nicht gesprochen werden soll und die Außengrenze zur Ägäis ohne türkische Mithilfe nicht geschützt werden kann, bleiben Großbritanniens Sonderwünsche fast das einzige Thema auf der Tagesordnung. Überstunden werden die Chefs trotzdem schieben.

Denn die trickreiche Frage, wie eine "Lex Britannica" geschaffen werden kann, ohne andere EU-Staaten schlechter zu stellen, wird Juristen und Politiker mühelos die ganze Nacht beschäftigen. Aber ganz ehrlich: Ist es wirklich angemessen, dass sich das Leitungspersonal der EU mit Ausnahmeregelungen beim Kindergeld und Garantien für die Londoner City befasst, während in Ankara Soldatenbusse brennen und in Brüssel der IS vielleicht eine "schmutzige Bombe" plant? Am Mittwoch enthüllten belgische Medien, dass bei dem Freund eines der Parisattentäter ein Video gefunden wurde, das den Eingang des Privathauses des Direktors des belgischen Atomforschungsprogramms zeigt. Welch teuflischer Plan hier hoffentlich im Frühstadium entdeckt wurde, möchte man sich überhaupt nicht ausmalen. Sehr deutlich zeigt sich daran aber, dass Brüssel und Ankara das gleiche Interesse daran haben müssen, das islamistische Terrornetzwerk auszuleuchten und die unbemerkte Einreise von Fanatikern zu verhindern. Natürlich ist es bitter, dass Angela Merkel ausgerechnet auf den Autokraten Erdogan setzen muss, ihm sogar die Öffnung neuer Beitragskapitel verspricht, wo sie doch die Türkei auf keinen Fall in die EU aufnehmen möchte. Aus Ungarn und Polen muss sie sich entgegenhalten lassen, in der Türkei die Einschränkung von Grundrechten wie Medienfreiheit und Minderheitenschutz zu ignorieren, während sie die Politik der Osteuropäer öffentlich kritisiere. Dazu lässt sich in Klammern anmerken, dass die Kriterien für EU-Mitglieder, die einen Rechtsraum teilen, nun einmal strenger sein müssen als für strategische Bündnispartner. Obwohl der Vorabgipfel der "Willigen" überhaupt nicht stattfand, ist er das wichtigste Signal dieses Februartreffens in Brüssel. Angemeldet hatten sich fünf der sechs EU-Gründungsstaaten (Italien fehlte, obwohl Premier Renzi europäische Solidarität brauchen wird, wenn die Balkanroute blockiert wird und wieder mehr Menschen an Italiens Küsten landen). Frankreichs Präsident Hollande wollte aber kommen, obwohl sein Premier kürzlich erklärt hatte, man werde der Türkei keine Flüchtlinge abnehmen. Das zeigt, dass die regierenden Sozialisten in Frankreich zwar unter extremem Druck von rechts stehen, aus einem möglicherweise nun entstehenden Kerneuropa aber nicht ausscheren wollen. Dessen Umrisse zeichnen sich nach jahrelangen Debatten über das Europa der zwei Geschwindigkeiten zum ersten Mal deutlicher ab. Auch Angela Merkel öffnet sich der Idee täglich mehr, seit klar ist, dass die meisten osteuropäischen Regierungen die EU für einen Selbstbedienungsladen halten. So könnte sich auch die Nachtsitzung für eine "Lex Britannica" am Ende als nützliche Vorarbeit und Blaupause für alle die erweisen, die auch in Zukunft am europäischen Binnenmarkt teilnehmen wollen, ohne eine Grenze, eine Währung und eine Wertegemeinschaft zu teilen.



Quelle: ots/Mittelbayerische Zeitung