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Pokerspieler Boris

Großbritanniens neuer Premierminister wird heute in seinen Amtssitz in der Downing Street einziehen unter denkbar schlechten Vorzeichen. Boris Johnson konnte zwar die Urwahl zum Parteivorsitzenden der Konservativen mit klarer Mehrheit gewinnen, aber im Parlament hat er keine Hausmacht. Die Wirtschaft steuert auf eine Rezession zu, das Pfund rutscht weiter in den Keller und bei der zentralen, der historischen, der alles andere überragenden Aufgabe für die Nation droht ihm die offene Revolte: Wie soll der Brexit vonstattengehen?

Geschrieben von Jochen Wittmann am . Veröffentlicht in Themen.
Boris Johnson
Boris Johnson
Foto: Chatham House / CC BY 2.0 (via Flickr)

Großbritanniens neuer Premierminister wird heute in seinen Amtssitz in der Downing Street einziehen unter denkbar schlechten Vorzeichen. Boris Johnson konnte zwar die Urwahl zum Parteivorsitzenden der Konservativen mit klarer Mehrheit gewinnen, aber im Parlament hat er keine Hausmacht. Die Wirtschaft steuert auf eine Rezession zu, das Pfund rutscht weiter in den Keller und bei der zentralen, der historischen, der alles andere überragenden Aufgabe für die Nation droht ihm die offene Revolte: Wie soll der Brexit vonstattengehen?

Den neuen Premierminister Johnson erwartet eine harsche Kollision mit der Realität. Was er zum EU-Austritt während des sechswöchigen Wahlkampfes von sich gab, war wenig mehr als Schwadroniererei. Er hatte erklärt, dass er die Scheidungsrechnung nicht bezahlen und das Backstop-Abkommen streichen will. Nähme man diese Statements ernst, wäre ein No-Deal-Brexit die logische Konsequenz, denn die EU kann sich auf solche Forderungen nicht einlassen. Droht ein ungeregelter Austritt, drohen Johnson aber auch die eigenen Parteifreunde. Rund 20 Tory-Abgeordnete haben signalisiert, dass sie in einem Misstrauensvotum gegen ihren Premierminister stimmen könnten, sollte Boris Johnson tatsächlich einen No-Deal-Brexit verfolgen. Für einen ungeregelten Austritt gibt es keine Mehrheit im Parlament. Johnson könnte der Premierminister mit der kürzesten Amtszeit in der Geschichte werden.

Der deutliche Sieg verschafft Johnson zumindest zeitweise Autorität. Selbst seine schärfsten parteiinternen Kritiker werden ihm zunächst eine Flitterwochenperiode einräumen wollen, um ihm die Chance zu geben, sich beweisen zu können. Allerdings sind damit die Flügelkämpfe innerhalb der Partei nicht aus der Welt. Die scharfen Differenzen darüber, ob Großbritannien ohne einen Deal aus der EU aussteigen soll - wie es Johnson riskieren würde - werden für den Herbst reserviert. Morgen geht das Parlament erst einmal in die Sommerpause. Der neue Premierminister wird versuchen, Möglichkeiten für eine Modifizierung des Austrittsabkommens mit der Europäischen Union auszuloten, bevor das Unterhaus am 3. September wieder zusammentritt. Dann wird Boris Johnson möglicherweise sofort ein Misstrauensantrag der Opposition erwarten, und es wird spannend, zu sehen, ob er immer noch die volle Unterstützung seiner Partei genießt. Rund 40 Fraktionskollegen haben schon in einer Abstimmung in der letzten Woche signalisiert, dass sie einen ungeregelten Austritt nicht mittragen wollen.

Boris Johnson pokert also, geht jetzt eine Mutmaßung um. Denn um im neuen Amt zu überleben, müsste er sich notgedrungen arrangieren. Indem er mit der Drohung eines No-Deal blufft, so diese Denkschule, will er die EU zwingen, ihm zumindest partiell entgegenzukommen. Es gibt Spekulationen, dass sich die Regierung in Dublin darauf einlassen könnte, eine zeitliche Begrenzung des Backstops zuzulassen, um nicht schon am 31. Oktober mit der Realität einer harten Grenze in Irland konfrontiert zu sein. Johnson könnte dann behaupten, Konzessionen bekommen zu haben, die ihm erlauben, das Austrittsabkommen zu ratifizieren. Andererseits könnte es aber auch einfach der Fall sein, dass Johnson an seinen unrealistischen Brexit-Plan glaubt und an ihm festhalten will. Dann steuert das Königreich auf einen Horror-Brexit an Halloween zu.

Ein Hoffnungsschimmer ist, dass die Finanzmärkte die damit verbundenen chaotischen wirtschaftlichen Konsequenzen bei ihrer Bewertung des Pfundkurses noch nicht eingepreist haben. Sie halten es für wahrscheinlicher, dass Johnson pokert.



Quelle: ots/Mittelbayerische Zeitung