Zum Hauptinhalt springen

Schicksalswahl für Europa

Diese Wahl wird in Europa so schnell niemand vergessen. Es ist das Finale eines ultralangen, ultranervigen Brexit-Dramas. Dreieinhalb Jahre nach dem rasiermesserdünnen Votum der Briten, die EU zu verlassen, kommt es nun zum - vorläufig - letzten Akt. Bei der Parlamentswahl an diesem Donnerstag wird entschieden, ob der Brexit-Keulenschwinger Boris Johnson oder sein in diesem Punkt wachsweicher Herausforderer Jeremy Corbyn in Downing Street 10 einzieht.

Geschrieben von Michael Backfisch am . Veröffentlicht in Meinung.
10 Downing Street
10 Downing Street
Foto: Sergeant Tom Robinson RLC/MOD / OGL v1.0 (via Wikimedia Commons)

Diese Wahl wird in Europa so schnell niemand vergessen. Es ist das Finale eines ultralangen, ultranervigen Brexit-Dramas. Dreieinhalb Jahre nach dem rasiermesserdünnen Votum der Briten, die EU zu verlassen, kommt es nun zum - vorläufig - letzten Akt. Bei der Parlamentswahl an diesem Donnerstag wird entschieden, ob der Brexit-Keulenschwinger Boris Johnson oder sein in diesem Punkt wachsweicher Herausforderer Jeremy Corbyn in Downing Street 10 einzieht.

Die Kontinentaleuropäer haben rat- und fassungslos zugesehen, wie sich eine ganze Nation polarisiert und selbst zerfleischt hat. Die für ihren Gleichmut und ihre Coolness bekannten Briten, die klaglos in langen Schlangen auf den Bus warten können, rasteten über der Brexit-Frage aus. Die Insel wurde zum Gaga-Land. Boris Johnson, der Zirkusdirektor der EU-Austritts-Show, nervte das Publikum mit seinen immer höheren Forderungen und unverschämten Erpressungsversuchen. "Dann geht doch endlich!", lautete der kollektive Stoßseufzer zwischen Brüssel und Bratislava.

Lange Zeit sah es so aus, als ob der charismatische Hitzkopf Johnson die Wahl gewinnen würde. Der beim Brexit-Thema lavierende Corbyn kam zu spröde und griesgrämig rüber. Doch auf den letzten Metern schrumpfte der Vorsprung des Konservativen Johnson, Labour-Chef Corbyn legte zu - auch aufgrund der Leihstimmen der eher EU-freundlichen Liberaldemokraten. Das britische Wahlrecht kennt nur Direktwahlkreise. Wer die meisten Stimmen hat, bekommt den Parlamentssitz. Der Rest schaut in die Röhre.

Doch egal, wer gewinnt: Die Zitterpartie beim Brexit könnte bald weitergehen. Es gibt zunächst nur eine Atempause. Bis Ende kommenden Jahres dauert die Übergangsperiode, bei der zwischen Großbritannien und Brüssel alles beim Alten bleibt. Sollte Johnson das Rennen machen, lauert aber eine neue Frist. Bis zum 31. Dezember 2020 müssen die Briten ein Freihandelsabkommen mit der EU auf den Tisch legen. Gelingt dies nicht, droht erneut ein chaotischer Brexit. Im Außenministerium in Berlin warnt man bereits: Im Schnitt müssen für die Erstellung eines Handelsvertrags bis zu fünf Jahre kalkuliert werden.

Triumphiert hingegen Corbyn, steht ein neues diplomatisches Fingerhakeln mit der EU bevor. Der Sozialist will einen Vertrag über einen weicheren Brexit mit mehr Bindungen zur Gemeinschaft. Danach sollen die Briten in einem Referendum über die Light-Version oder den Verbleib in der EU abstimmen. Ein wahrer Wackelpeterkurs. Dennoch lässt sich bereits heute feststellen, dass sich die Gewichte mit dem wahrscheinlichen Szenario eines harten oder weichen Brexits verschieben werden. Deshalb ist der Urnengang der Briten auch eine Schicksalswahl für Europa. London war bisher wichtiger Schrittmacher für eine wachstumsfreundliche Wirtschaftspolitik, Haushaltsstabilität und eine gesunde Skepsis gegenüber zu viel Brüsseler Allmacht zulasten der Nationalstaaten.

Diese Impulse fallen weg. Damit wächst die Bedeutung Frankreichs und der südeuropäischen Länder. Der französische Präsident Emmanuel Macron macht seit seinem Amtsantritt Front gegen die schwarze Null, die in den EU-Verträgen verankerte Drei-Prozent-Defizit-Obergrenze bei der Neuverschuldung und die Exportüberschüsse Deutschlands. Stattdessen fordert er milliardenschwere öffentliche Investitionen in Infrastruktur und Digitalisierung. Der Applaus der mit Staatsschulden kämpfenden Regierungen zwischen Madrid und Athen ist ihm sicher. Damit wird der Druck auf Deutschland höher, die Kassen zu öffnen.



Quelle: ots/Berliner Morgenpost