Europawahl: Ein Fest
Was wählen wir an diesem Wochenende eigentlich? Eine Frage, die in den zurückliegenden Wochen und Monaten zwischen all den dramatischen Warnungen vor dem angeblich bevorstehenden Untergang des europäischen Abendlandes auf der einen und der von Populisten jedweder Sorte offen zur Schau getragenen Demokratieverachtung auf der anderen Seite viel zu selten gestellt worden ist.
Was wählen wir an diesem Wochenende eigentlich? Eine Frage, die in den zurückliegenden Wochen und Monaten zwischen all den dramatischen Warnungen vor dem angeblich bevorstehenden Untergang des europäischen Abendlandes auf der einen und der von Populisten jedweder Sorte offen zur Schau getragenen Demokratieverachtung auf der anderen Seite viel zu selten gestellt worden ist.
Wir wählen ein Parlament, die direkte Vertretung des Volkes respektive der Völker Europas. Und dieses Parlament ist viel besser als sein Ruf. Es funktioniert oft ganz anders als der Bundestag, die französische Nationalversammlung oder die traurige Versehrtengruppe, die die Briten immer noch trotzig als Unterhaus bezeichnen. Im Laufe seiner Geschichte hat das EU-Parlament den nationalen Regierungen und der nicht demokratisch bestimmten Kommission viele Rechte abgetrotzt. Und nicht immer, aber an vielen Stellen arbeitet es so, wie ein Parlament arbeiten sollte: Es filetiert jede Vorlage eines Kommissars, egal, welches Parteibuch dieser Kommissar hat. Das kann es, weil es in hohem Ausmaß ein Expertenparlament ist. Anders als (nicht nur) hierzulande, wo über die drei Stationen Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal immer öfter stromlinienförmige Politkarrieren produziert werden, finden sich in Straßburg Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit.
Ein EU-Parlamentarier ist vielfach freier als sein nationaler Kollege. Er kann sich viel öfter um die Sache kümmern als nur Statist in durchchoreografierten Rede-Ritualen zu sein. Das allein garantiert noch keine Spitzenergebnisse an jeder Ecke. Europas Agrarpolitik etwa ist nach wie vor ein superteurer Witz. Sie produziert auf ruinöse Weise Überschüsse, die kein Mensch braucht. Mit Glyphosat, das in den USA giftig ist, aber bei uns nicht. Aber bereits bei diesem Thema waren die Parlamentarier mutiger als die Mitgliedsländer (man erinnere sich nur an das Umfallen des zuständigen deutschen Ministers). Und bei einer ganzen Reihe von Themen setzte das Parlament wichtige Themen gleich ganz durch: Genannt seien hier nur das Verbot von Plastiktüten und -trinkhalmen oder die Vereinbarung zum Schutz der Menschenrechte durch transnationale Unternehmen. Und die wohl umstrittenste Entscheidung, die Reform des Urheberrechtes, bei der man einer gigantischen Lobbyistenschlacht einiger der umsatz- und meinungsstärksten Konzerne widerstand, die die Welt bislang gesehen hat.
Man stelle sich das in Deutschland vor, wo Bundestag (und Regierung) jahrelang untätig quasi im Auspuff der Autobauer gewohnt haben ...
Das Europaparlament ist also nicht die Schwatzbude, als die man es von einschlägig interessierter Seite so gerne hinstellt. Es ist auch stark genug, perfide Gestalten wie Nigel Farage auszuhalten, der von dem Europa, das er mit Lügen bekämpft, ganz gut leben kann. Oder einen Martin Sonneborn, bei dem man sich allmählich fragen muss, ob er noch der lustige Satiriker ist, der er auf alle Fälle einmal war, oder schon eine traurige Kopie der italienischen Fünf-Sterne-Populisten. Vor allem aber ist das Parlament weltweit absolut einzigartig: Keine andere überstaatliche Organisation dieser Bedeutung und Wirkmacht wird direkt demokratisch gewählt. Und es sind fast 420 Millionen Menschen, die diese Institution wählen dürfen. Dürfen, nicht müssen. Dieses Privileg sollten wir uns weder von den Feinden der Freiheit aus der Hand nehmen lassen noch selbst schlecht reden. Bei allen Problemen und Defiziten, an denen es in Europa unbestritten und ohne Verzug zu arbeiten gilt, ist der Wahltag also zuvorderst eines: ein Fest.