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Brexitabkommen: Kein Grund zur Freude

Das hat man kaum noch zu hoffen gewagt: Auf den allerletzten Drücker haben sich EU und Großbritannien auf einen Scheidungsvertrag geeinigt. Eine Wende zum Guten ist es gewiss, aber noch nicht das Ende des Brexit-Dramas. Erst muss Boris Johnson für diesen Deal die Zustimmung des Parlaments bekommen. Das wird noch harte Arbeit. Nicht ausgeschlossen, dass der Premier bei einem Scheitern im ersten Anlauf doch noch versuchen könnte, einen chaotischen No-Deal-Brexit gegen alle Widerstände durchzupeitschen.

Geschrieben von Christian Kerl am . Veröffentlicht in Meinung.
Foto: Stephen Craven / CC BY-SA 2.0 (via geograph.org.uk)

Das hat man kaum noch zu hoffen gewagt: Auf den allerletzten Drücker haben sich EU und Großbritannien auf einen Scheidungsvertrag geeinigt. Eine Wende zum Guten ist es gewiss, aber noch nicht das Ende des Brexit-Dramas. Erst muss Boris Johnson für diesen Deal die Zustimmung des Parlaments bekommen. Das wird noch harte Arbeit. Nicht ausgeschlossen, dass der Premier bei einem Scheitern im ersten Anlauf doch noch versuchen könnte, einen chaotischen No-Deal-Brexit gegen alle Widerstände durchzupeitschen.

Aber wahrscheinlich ist das nicht. Dazu ist auch der Verhandlungserfolg für Johnson zu groß: Die von Brüssel lange eisern verteidigte Backstop-Klausel, die Großbritannien eng an die EU gebunden hätte, ist aus dem Vertrag gestrichen.

Wie war plötzlich möglich, was so lange nicht erreichbar schien? Beide Seiten haben sich in der Schlussrunde bewegt. Johnson hat eingelenkt, weil seine Optionen gefährlich zusammengeschrumpft waren. Die Drohung des Premiers, er werde das Vereinigte Königreich notfalls ohne Deal am 31. Oktober aus der EU führen, schien zunehmend an Wirkungskraft zu verlieren: Erst hat ein vom Parlament eilig beschlossenes Gesetz diesen Weg verboten, dann machte das oberste Gericht klar, dass es einen schon geplanten Verstoß gegen dieses Gesetz rechtzeitig stoppen wird. Johnson braucht aber den Brexit jetzt, wenn er seine Chance auf einen Sieg bei fälligen Neuwahlen wahren will. Deshalb die Geschmeidigkeit, mit der der Premier frühere rote Linien überschritten hat.

Dabei bewegte er sich auf bereits erkundetem Terrain: Im Kern ist die Sonderlösung für Nordirland die Rückkehr zu jenem Modell, das die EU seiner Vorgängerin May vergeblich vorgeschlagen hat. Ob die nordirische, probritische DUP am Ende doch diesem Weg folgt, der Nordirland wahrscheinlich dauerhaft etwas abrückt vom übrigen Königreich, ist offen - vermutlich wird sie nach der ersten Absage den innenpolitischen Preis in die Höhe treiben.

Ganz ohne Risiko ist die Sache auch für die EU nicht: Wie verlässlich die Kontrollen an der Zollgrenze durch die irische See wären, muss sich noch zeigen. Mehr noch: Der Vertrag öffnet die Möglichkeit, dass nordirische Regionalabgeordnete das Arrangement in ein paar Jahren über den Haufen werfen. Das ist zwar unwahrscheinlich - aber es ist die Tür zu jener Befristung der Nordirland-Regelung, die in Brüssel bislang tabu war.

Man muss es Premierminister Johnson lassen: In seiner schwierigen Lage hat er am Ende wichtige Punkte gemacht. Der Preis, den die EU für ein geregeltes Abkommen zahlt, ist dennoch nicht zu hoch: Sie hat zwar gegen ihre Absicht den Vertrag doch wieder aufgeschnürt - aber sie hat ihre Prinzipien verteidigt. Die EU hat sich nicht erpressen lassen.

Auch wenn jetzt ein halbwegs gutes Ende des britischen Austritts aus der Gemeinschaft in Sicht kommt, Grund zur Freude gibt es nicht. Der Brexit bleibt ein tragischer, historischer Irrtum. Den Schaden hat vor allem Großbritannien, wirtschaftlich wie politisch. Aber auch die Europäische Union wird den Verlust eines ihrer größten und wirtschaftsstärksten Mitglieder bald schmerzhaft zu spüren bekommen. Mit dem geregelten Ausstieg bestünde immerhin die Chance, die künftige Beziehung partnerschaftlich zu organisieren. Die Verhandlungen dazu werden allerdings nicht leichter, wahrscheinlich sogar schwerer als die über den Austrittsvertrag. Selbst wenn in den nächsten Tagen alles gut geht, wird uns der Brexit auch in den kommenden Jahren beschäftigen.



Quelle: ots/Berliner Morgenpost