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Auf in die 20er!

Die Zeitläufe halten sich ungern an Jahreszahlen. So macht es den Eindruck, als hätten die neuen 20er Jahre, auf die wir zum Jahreswechsel schauen, bereits längst begonnen: die Völkerwanderung der Flüchtlinge; die Vorboten des Klimawandels; das weltweite Erstarken von Populisten und Nationalisten parallel zur Schwäche der liberalen Demokratie; der Brexit; die Übermacht der sozialen Medien; die wachsende Abhängigkeit der Welt von China; das chinesische Modell des autoritären Staates, der seine Macht auf die lückenlose Verhaltenskontrolle seiner Bürger - treffender formuliert: seiner digitalen Untertanen - aufbaut. Ein Modell, das nicht nur Erdogan und Putin elektrisiert, sondern alle Despoten zur Nachahmung einlädt, die sich auf dieser Welt finden lassen.

Geschrieben von Friedrich Roeingh am . Veröffentlicht in Meinung.
Foto: pxhere / CC0

Die Zeitläufe halten sich ungern an Jahreszahlen. So macht es den Eindruck, als hätten die neuen 20er Jahre, auf die wir zum Jahreswechsel schauen, bereits längst begonnen: die Völkerwanderung der Flüchtlinge; die Vorboten des Klimawandels; das weltweite Erstarken von Populisten und Nationalisten parallel zur Schwäche der liberalen Demokratie; der Brexit; die Übermacht der sozialen Medien; die wachsende Abhängigkeit der Welt von China; das chinesische Modell des autoritären Staates, der seine Macht auf die lückenlose Verhaltenskontrolle seiner Bürger - treffender formuliert: seiner digitalen Untertanen - aufbaut. Ein Modell, das nicht nur Erdogan und Putin elektrisiert, sondern alle Despoten zur Nachahmung einlädt, die sich auf dieser Welt finden lassen.

Mit Verzagtheit oder gar Pessimismus lassen sich diese Herausforderungen nicht bestehen. Dazu besteht auch kein Anlass. Punkt 1: Unsere Werte von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit finden längst nicht nur in Hongkong glühende Anhänger. Sie werden auch in Zukunft das Gegenmodell gegen die Bevormundung und Unterdrückung in Unrechtsregimen bleiben. Punkt 2: Wir werden auch bei einer Umkehrung der wirtschaftlichen Vorzeichen nicht vom überbordenden Wohlstand in eine Verelendung der Massen rutschen - so wie die Weltwirtschaftskrise gegen Ende der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts die Welt aus den Fugen geraten ließ. Was wir angesichts dieser Entwicklungen aber brauchen, ist mehr denn je einen klaren Kopf. Allem voran brauchen wir wieder mehr Bürger, die sich auch als solche verstehen. Die sich in ihrem persönlichen Umfeld Hass und Hetze ebenso entgegenstellen wie autoritären Sehnsüchten. Bürger, die den Ideenwettstreit um Problemlösungen nicht bei der Politik abgeben wie eine Bestellung bei Amazon. Wir brauchen zugleich eine politische Willensbildung, die sich auf allen staatlichen Ebenen als handlungsfähiger, ja wehrhafter erweist als in den 10er Jahren.

Beispiele dafür, dass sich Parlamente und Regierungen den Herausforderungen kraftvoller stellen müssen, statt mit der Verteilung von Placebos punkten zu wollen, sind Legion: Vorschulen und Ganztagsschulen, die benachteiligte Kinder nicht schon abhängen, bevor sie starten; die Ertüchtigung unserer Infrastruktur, die nicht weiter verfallen und im Digitalen nicht den Schwellenländern hinterherhinken darf; die Beschleunigung unseres lähmenden Planungsrechts, das die Akzeptanz des Staates unterwandert; die Bereitschaft, die Potenziale einer digitalen Verwaltung offen anzusteuern - auch um finanzpolitische Spielräume zu gewinnen; der Mut, sich nicht länger den digitalen Datenkraken zu unterwerfen, sondern sie nach europäischen Maßstäben zu regulieren. Der Beweis politischer Handlungsfähigkeit ist zugleich Voraussetzung dafür, die Bürger auch bei scheinbar widersprüchlichen Zielstellungen mitzunehmen. So kann für eine notwendige Einwanderung bisher unbekannter Dimension nur werben, wer es schafft, kriminelle und kriminell gewordene Zuwanderer abzuschieben. Dieser neue Pragmatismus wird bald Mehrheiten jenseits der so kleinmütigen Bundesregierung aus Union und waidwunder SPD finden müssen.

Alle Parteien, die den liberalen Rechtsstaat verteidigen wollen, sind in doppelter Hinsicht gefordert: Sie müssen wieder ihre Profilbildung verstärken. Und sie müssen zugleich für Pragmatismus und Kompromissfähigkeit werben. Eine Gratwanderung in einer Welt, in der uns die sozialen Medien ständig die Spaltung der Gesellschaft vorgaukeln. Einer Gesellschaft, deren immer noch mächtige Mitte sich viel stärker als wahrgenommen nach Handlungsfähigkeit und Zuversicht sehnt.



Quelle: ots/Allgemeine Zeitung Mainz